Geloste Bürger*räte - ein Modell für partizipative Demokratie

  • Veröffentlicht am: 28. Mai 2020 - 14:06

Wer hält die Demokratie für eine gute Staatsform?

Wer hält den derzeitigen Zustand „unserer“ Demokratie für gut?

Woran kann ich, von außen betrachtet, erkennen, dass du Demokrat*in bist?

Es sind drei Fragen, die Ilan Siebert von Demokratie Innovation e.V. schnell mit seinen Zuhörer*innen ins Gespräch kommen lassen. Das klappt am besten, wenn man sich von Angesicht zu Angesicht begegnet. Aber auch das Format einer Online-Konferenz, wie am 28.5.2020 als Grünes Stadtgespräch in Hemmingen stattgefunden, hat eine gute Resonanz gefunden.

Demokratie ist gut. „Unsere“ Demokratie könnte besser sein. Hier herrschte Einigkeit. Aber woran macht man fest, dass man Demokrat*in ist? Jede/r 50-ste in Deutschland ist Mitglied einer politischen Partei, davon beteiligt sich jede/r 10-te aktiv an der politischen Arbeit

Dieser Befund beschreibt das Problem. Denn mit der Fixierung auf die politischen Parteien als institutionalisierter Ort der politischen Willensbildung nimmt 99,8% der Bevölkerung nicht bzw. nur durch die Wahlen an den politischen Prozessen teil. Das abnehmende Vertrauen in unser parlamentarisches System, in die Entscheidungen der gewählten Eliten, in die Parteien und in die Politiker*innen mit ihren eigenen oder von undurchsichtigen Lobbyorganisationen beeinflussten Agenden ist kaum zu übersehen.

Ilan Siebert setzt dem eine Utopie entgegen: Wie wäre es, wenn wir versuchten, für gesellschaftliche Aufgaben gemeinsam in einer Veranstaltung, nennen wir sie Bürger*rat, Lösungen zu finden? Wie wäre es, wenn in diesem Bürger*rat jede Bürger*in die Möglichkeit hätte mitzuarbeiten, in dem unterschiedliche Gruppen der Gesellschaft wie z.B. Frau und Mann, Junge und Alte oder Arme und Reiche gleichberechtigt vertreten sind?

Eine solche Veranstaltung muss zielorientiert sein, d.h., ein zu lösendes Problem muss klar und eindeutig benannt werden. Dazu müssen die Teilnehmer informiert sein, d.h., sie müssen freien Zugang zum Expertenwissen aus unterschiedlichen Perspektiven haben. Sie muss konstruktiv sein, es geht nicht um die Verhinderung einer notwendigen Veränderung. Sie muss produktiv sein, d.h., sie muss von kompetenten Moderatoren angeleitet werden. Sie muss inklusiv sein, d.h. die Gesellschaft in ihrer Vielfalt muss sich in den Teilnehmer*innen abbilden. Dies kann durch ein Losverfahren erreicht werden. Ein solches Gremium soll kein gewähltes ersetzten, sondern sinnvoll ergänzen.

Praktisch könnte ein Losverfahren wie folgt ablaufen: 1000 Bürger*innen werden per Zufall aus einer Bevölkerungsgruppe (z.B. Einwohner Deutschlands, eines bestimmten Wahlkreises, eines bestimmten Verbandes) ausgewählt und per Brief gefragt, ob sie teilnehmen wollen. Die Teilnahme ist freiwillig. Wer keine Rückmeldung abgegeben hat, wird persönlich aufgesucht und über das Projekt detailliert aufgeklärt. Aus dem Kreis der Zustimmenden werden wiederum 100 Teilnehmende ausgelost unter der Maßgabe, dass der Anteil der Geschlechter, die Altersverteilung, der mögliche Migrationshintergrund, usw. dem in der betroffenen Gruppe entspricht. Dieser besondere Aspekt verleiht einem solchen Gremium eine hohe Legitimation. Die Teilnahme wird in attraktiver Form finanziell gewürdigt. Die Sitzungen finden nicht öffentlich statt. Sie könnten z.B. 5 Wochenenden umfassen.

In einem gewählten Parlament hingegen sind z.B. alte, weiße Männer überrepräsentiert, die Frauen, untere Altersgruppen und Migranten sind unterrepräsentiert. Der Altersdurchschnitt der Abgeordneten liegt deutlich über dem der Gesamtgesellschaft. Zudem sind bestimmte Berufsgruppen häufiger in den Parlamenten vertreten (z.B. Beamte). Die Abgeordneten müssen zunächst eine Parteikarriere mit einem Wahlverfahren durchlaufen, bevor sie sich dem Wahlvolk stellen dürfen. Bevorzugt werden rhetorisch geschickte und medientaugliche Persönlichkeiten. Sind sie dann für 4 oder 5 Jahre gewählt, unterliegen sie häufig dem Fraktionszwang oder der Parteiraison. Bei den meisten besteht insofern ein Eigeninteresse, als sie weitere Amtszeiten anstreben, sie sind Berufspolitiker. Taugen diese Punkte nicht zur Fundamentalkritik am Parlamentarismus, so benennen sie doch Schwachstellen, welche die gelosten Bürger*räte nicht aufweisen. Diese konstituieren sich nur für ein inhaltlich und zeitlich begrenztes Thema, was den Kreis der potenziellen Interessenten und deren Unabhängigkeit erheblich vergrößern könnte. Repräsentative und über Bürger*räte partizipative Gremien können sich gegenseitig ergänzen. Starke Interessen gut vernetzter Gruppen könnten relativiert werden. Zwar können die Bürger*räte nur Empfehlungen abgeben, aufgrund seiner hohen Legitimierung ist es schwierig, diese ohne weiteres zu ignorieren.

Mögliche Themen könnten eine Wahlrechtsreform, die Einführung von Tempo 130km/h auf Autobahnen oder andere Probleme der Mobilitäts- und Umweltentwicklung sein. Solche Verfahren zur Bürgerbeteiligung sind nicht neu, sie wurden bereits in Belgien, in der Mongolei, in Vorarlberg, in Island und in Irland mit Erfolg angewandt. Besonders das irische Beispiel der Reform des Ehe- und Abtreibungsrechts in einem katholisch geprägten Land ist eine Erfolgsgeschichte.

Könnte ein solches Gremium auch auf lokaler Ebene z.B. bei uns in Hemmingen erfolgreich sein? Ein vielversprechendes Beispiel ist die Einrichtung von Wahlkreisräten. Von der Abgeordnet*in eines Wahlkreises wird jeweils mit einer aktuellen politischen Zielsetzung ein gelostes Gremium gebildet, das Empfehlungen erarbeitet. Ein Pilotprojekt dafür startet gerade in Bremen. Auch die Frage nach der städtebaulichen Weiterentwicklung wie z.B. die Zukunft der Fläche 60 in Hemmingen wäre ein lohnendes Thema.

Diese Utopie ist realistisch, man muss sie nur wollen.

Folgende Links führen auf zusätzliche Informationen:

https://www.esgehtlos.org/geloste-burger-rate

https://t3n.de/news/politikverdrossenheit-demokratie-update-1129813/

https://www.mehralswaehlen.de/demokratiekonvent/

Literatur:

David van Reybrouck: Gegen Wahlen, Wallstein Verlag 17,90€

Zu beziehen über Hemminger Buchhandlung, Deveser Str. 2